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Medizin

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Wohlmeinende, humanistisch gesinnte Zeitgenossen, auch Ärzte, sagen mir, dass es schon zutreffe, klar, die so genannten psychisch Kranken seien in Wirklichkeit gar nicht krank, zumindest nicht im Sinne der zeitgenössischen, naturwissenschaftlich orientierten Medizin. Dass mit ihnen aber etwas nicht stimme, dass sie der Hilfe bedürften, dass diese professionell gewährt werden müsse, daran könne doch selbst ich, der notorisch Verstockte, keinen Zweifel anmelden, der vor meinen eigenen moralischen Maßstäben Bestand hätte. Warum eigentlich müsse man denn, so wie ich, die Medizin, diese uralte Heilkunde, auf einen allzu engen Krankheitsbegriff beschränken? Recht bedacht, auch im Licht ihrer langen Geschichte, wolle, könne und müsse der Arzt doch allen Mühseligen und Beladenen helfen, die sich nicht selbst helfen könnten, unabhängig davon, ob man in irgendwelchen Hirnwindungen den Grund für ihre Malaise entdecken könne oder nicht.

Bei ersten Hinhören kann man da nur sagen: Ja, sicher, so bedacht…

Doch, ja, aber! Schaut man genauer hin, dann zeigt sich, dass dieser Arzt, der den Mühseligen und Beladenen helfen möchte, ganz gleich, woran sie leiden, seine Dienste zwangsläufig im Rahmen einer Struktur anbieten muss, die dem medizinischen Modell der “psychischen Krankheiten” entspricht. Aus Sicht dieses Modells ist die “psychische Krankheit” ein individueller Prozess, einer, der im Organismus des “Kranken” abläuft, sei es nun in seiner Psyche (was immer das sein mag) oder in seinem Gehirn. Aus diesem Grunde wird von den Menschen, die sich Hilfe suchend an einen Arzt wenden, erwartet, dass sie die Rolle des (potenziell) psychisch Kranken einnehmen, dass sie ihre “Symptome” vortragen, dass sie ihre Medikamente einnehmen oder dass sie sich in eine Psychotherapie begeben, die ihr Fehlverhalten korrigiert. Kurz: Ob er will oder nicht, auch der wohlmeinende Arzt ist Akteur in einem Handlungssystem, das aus Mühseligen und Beladenen grundsätzlich Kranke macht. Und was heutzutage als “krank” betrachtet wird, das können die Individuen nicht nach Gusto von Fall zu Fall festlegen, sondern das ist kulturell bestimmt – und in unserer heutigen, technisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Kultur ist die “psychische Krankheit” eben eine Krankheit wie jede andere, nur, dass sie das Gehirn betrifft und man noch nicht so genau weiß, wie.

Nüchtern betrachtet, ist der einzige tragfähige Grund, die Mühseligen und Beladenen, die Menschen, die unter Lebensproblemen leiden, die in Lebenskrisen stecken, als “psychisch Kranke” zu betrachten, darin zu sehen, dass diese Menschen, so etikettiert, dann als Objekte medizinischen Handelns aufgefasst werden können, für deren Behandlung die Krankenkassen aufkommen müssen. Es gäbe ohne diese Etikettierung keinen genuinen Grund, die Medizin als Hauptzuständige zu betrachten. Die medizinische Oberhoheit schmölze dahin in diesem Bereich, wenn das medizinische Modell der “psychischen Krankheiten” als das durchschaut würde, was es ist: ein Marketinginstrument der Medizin und Pharmawirtschaft nämlich.

Wir haben es hier mit der unheimlichen Macht des Faktischen zu tun. Für die Mühseligen und Beladenen, die der Hilfe bedürfen, gibt es kaum Alternativen zum psychiatrischen System, in das natürlich auch die Psychotherapeuten einbegriffen sind, die sich mitunter ja fälschlicherweise für etwas Besonderes halten. Seitdem die moderne Psychiatrie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als medizinische Spezialdisziplin entstand, bemühte sie sich mit wechselndem Erfolg, sich letztlich aber doch durchsetzend, den Bereich der Hilfe für Menschen mit Lebensproblemen zu dominieren und diesen nach Möglichkeit auszuweiten. Daher können sich viele Menschen nichts anderes vorstellen, als dass jemand, der ausklinkt, der nicht richtig tickt, der “Probleme hat”, in die Psychiatrie muss.

Der wohlmeinende, humanistisch gesinnte Arzt mit dem erweiterten philosophischen Blick, jenes Exemplar dieser Gattung also, das in der Regel erst nach der Pensionierung zur vollen Reife gelangt, hat natürlich Recht mit seiner Behauptung, dass die heutige Einengung der Medizin auf Heiltechnik unheilvoll ist und dass nach wie vor Medizin Heilkunde, ja Heilkunst sein müsse. Allein, diese Einsicht zerschellt an den Klippen eines Systems, dass “Krankheit” zunehmend als Störfaktor definiert, der möglichst kosteneffizient repariert werden muss wie die Funktionsstörung einer Maschine, deren Fehlfunktion den Betrieb aufhält.

Es genügt nicht, nur den weißen Kittel abzulegen, es genügt auch nicht, im bunten Hemd als Bahama-Psychologe den Kumpel zu geben. Wer als Arzt oder Psychologe  in einem alternativen System der Hilfe tätig werden will, muss aufhören, Psychiater oder Psychotherapeut zu sein. Diese professionellen Rollenbilder sind heute auf ein System zugeschnitten, das Menschen mit Lebensproblemen als “psychisch Kranke” behandelt, ihnen dieses Selbstverständnis nahelegt, ja,  aufzwingt.

Daran kann eine wohlmeinende philosophische Einstellung nichts ändern; “Postpsychiatrie” ist alter (saurer) Wein in neuen Schläuchen.

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